DFG-Projekt

DFG-Projekt:

Fallkonstitutive Urteilsbildung am Beispiel von Kindeswohlgefährdungseinschätzungen bei unangemeldeten Hausbesuchen in der Sozialen Arbeit

AUSGANGSLAGE

Eine der folgenreichsten Entscheidungsdomänen in der Sozialen Arbeit ist der Kinderschutz. Ein Großteil dort anfallender professioneller Entscheidungen betrifft die Zukunft. Professionelle müssen prognostizieren, wie hoch das gegenwärtige Risiko einer Verletzung des Kindeswohls ist. Für diese Risikoeinschätzung soll sich laut § 8a SGB VIII, falls erforderlich, ein unmittelbarer Eindruck vom Kind und seiner persönlichen Umgebung durch einen Hausbesuch verschafft werden. Dies ist eine anspruchsvolle Aufgabe, hängt doch mit dieser Ersteinschätzung die Gewährung oder Verweigerung weitreichender Hilfen, der mögliche Eingriff in die familiäre Autonomie oder die Einleitung gerichtlicher Maßnahmen zusammen.

WAS WIR WISSEN: FORSCHUNG ZU URTEILSBILDUNG UND ENTSCHEIDUNGSFINDUNG

Die bisherige Forschung ist überwiegend von einer Idealvorstellung von Urteilsbildung ausgegangen und hat die Praxis daran bemessen. Professionelle Urteilsbildung erschien daher immer wieder als „fehlerhaft“. Daraus wurde dann abgeleitet, dass die professionelle Praxis viel stärker durch klinisch-statistische Assessmentverfahren standardisiert werden müsse.

Die neuere Forschung zeigt aber, dass Urteile deshalb als „fehlerhaft“ erschienen, weil bisherige Studien die Komplexität der Praxis der Urteilsbildung unzureichend berücksichtigt haben:

  • Gute Urteilsbildung erfolgt selten rein rationalistisch oder allein kognitiv.
  • Urteile werden hergestellt und ausgehandelt zwischen Kolleg*innen, Adressat*innen und Dingen (Objekte, Techniken, Akten etc.).
  • Urteile werden durch fachliche Diskurskulturen geprägt.
  • Urteile vollziehen sich in konkreten Situationen und Räumen (z.B. bei Hausbesuchen)

Fazit:

Professionelle Urteile entsprechen nicht der Logik reiner, durch eindeutige Richtig-Falsch-Maßstäbe vorgezeichneter, rationaler Handlungen. Sie stellen vielmehr soziale Konstruktionen dar, als Antwort auf die kontingenten und paradoxalen Anforderungen professionell zu bearbeitender Probleme.

WAS WIR NOCH NICHT WISSEN: FORSCHUNGSDESIDERATE

Welche Relevanz haben die Adressaten bei der Herstellung professioneller Urteile?

Die bisherigen Forschungen geben Hinweise darauf, dass gerade die Adressat*innen einen erheblichen Anteil an der professionellen Urteilsbildung haben. Der Fokus liegt herbei auf den Strategien der Relevanzsetzung, der Kategorisierung und der Klientifizierung, die Professionelle zur Fallkonstitution nutzen, und damit auf die einseitige Konstruktion der Adressat*innen durch die Fachkräfte. Inwiefern aber die Adressat*innen ihrerseits eine aktive Rolle in der sozialen Produktion fachlicher Urteile einnehmen, wurde bisher kaum systematisch untersucht.

Welche Rolle spielt das Erstgespräch als Ort der Herstellung professioneller Urteile?

Das „Erstgespräch“, in dem ASD-Fachkräfte entscheiden, ob ein Fall überhaupt zum Fall wird, ob Gefahr im Verzug ist oder das Familiengericht bezüglich einer Herausnahme angerufen werden muss, erscheint als wichtiger Ort der Urteilsbildung (erster Eindruck). Dazu gibt es aber bisher kaum Forschungen.

ZIEL

Ethnografische Untersuchung von unangekündigten Hausbesuchen zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung durch den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) und somit des Erstgesprächs zwischen Eltern und Fachkräften als neuralgischer Punkt der sozialpädagogischen Fallkonstitution.

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